Samstag, 5. September 2015

Episode 42 – Linie 1

Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, verliebte ich mich in ein öffentliches Verkehrsmittel: die Lini1.
U-Bahn fahren mochte ich noch nie wirklich, vielleicht mal ein paar Jahre als Kind, zusammen mit meiner Mama oder meinem Papa die mich vor der ganzen Welt beschützen konnten – damals, als die Fahrt durch den schwarzen Tunnel von der Reinickendorfer Straße bis zur Kochstraße eine halbe Ewigkeit zu dauern schien.

Später, als die Mauer schon lange weg war, fuhr ich täglich allein U-Bahn. Alleine zu fahren war immer etwas gruselig. Es fühlte sich immer so an, als wäre in der U-Bahn ein anderer Menschenschlag anzutreffen. Alles wirkte düster, irgendwie schmutziger als oben bei Tageslicht. Egal ob in Berlin, New York oder Rom: wer regelmäßig U-Bahn fährt, hat alle Abgründe  der Menschheit schon mindestens einmal gesehen. Ich kenne keinen Ort in Berlin, an dem man brutaler und härter mit der Realität konfrontiert wird, als in der U-Bahn. Es ist eine große Bühne, realer als jede Realityshow bei RTL2 je sein könnte.
Lange bevor es RTL2 gab, dachten sich Birger Hermann und Volker Ludwig anscheinend genau das, als sie ihr Stück „Linie1“ schrieben und komponierten. Ein Stück, welches mich von der ersten Sekunde in seinen Bann und in die schmutzige, düstere, leicht depressive Welt des Berliner Untergrunds entführte. Damals, als Teenager, kam mir das alles so echt vor, heute liebe ich noch immer die Musik, muss aber zugeben, dass ich mich mit der Geschichte persönlich nicht mehr identifizieren kann. Als ich mir das Stück vor zwei Jahren erneut ansah, musste ich immer wieder lächeln, mein jüngeres ich, das Mädchen, dass dieses Stück vor ca. 16 Jahren so aufgesaugt hatte, war schon lange verschwunden. In den Bann zog mich lediglich noch der männliche Hauptdarsteller… und selbst der war (nüchtern und bei einem gemeinsamen Kaffee genauer betrachtet) ziemlich langweilig.

Die Berliner U-Bahn sah mich in den nächsten zwei Jahren so gut wie gar nicht, die U-Bahn in Rom und New York notgedrungen schon. War es doch immer noch die günstigste und schnellste Möglichkeit von A nach B zu gelangen. Und schließlich, an einem sonnigen Urlaubstag im August, wollte ich mich auch mit der Berliner U-Bahn versöhnen. Zugegeben, es fiel mir nicht ganz leicht mich bei jemandem für ein zu schnelles Urteil und einen Haufen von Vorurteilen zu entschuldigen, der schon beim ersten Wiedersehen nach Schweiß und Urin roch. Die Tatsache, dass ich jeden Tag viele Menschen um mich habe, viele Geräusche und Gespräche auf mich einprasseln machte die Vorstellung von einem Bad in der Menge nicht gerade attraktiver.
Ich startete vorsichtig, mit dem was ich kannte, bekanntes Terrain sozusagen: die U6.

Ich will euch jetzt nicht mit einer schnöden U-Bahnfahrt langweilen, was ich aber mit Sicherheit sagen kann ist, das wir es geschafft haben, die U-Bahn und ich meine ich. Wir sind jetzt wieder Freunde.
Ohne es provoziert zu haben, war ich plötzlich wieder Zuschauer und Zuhörer. Zwei Damen saßen mir direkt gegenüber und unterhielten sich etwas lauter, als angebracht. Die eine Anfang 40, die andere vielleicht Anfang 50:

„Mein Freund ist ja heute Abend zurück“ sagte die jüngere, „wir haben uns ja eigentlich halb getrennt, mal sehn wie das wird. Wir sind ja nachher noch bei seinen Eltern eingeladen“.

Die ältere nickte abwesend „der Bulgare hat mich letztens auf ne Kaffee eingeladen, ich hab dann extra deutlich erwähnt, dass ich seine Frau auch gerne mal kennen lernen würde. Der ist ja eigentlich verheiratet. Und hat zwei Kinder“…

„Das Kind meiner Freundin ist ja jetzt auf einer privaten Schule mit dem Fokus auf deutsch, Kunst und Musik, sie hat da echt ne Ader für“

„Weißt du, wer echt Talent hat? Meine zweijährige Nichte. Die malt Bilder, du denkst das ist von nem großen Künstler oder so. Und das mit zwei Jahren!!!“

Ein Gespräch, aus zwei Monologen.

Ich musste lächeln und schaute schnell aus dem Fenster. Die Bahn rattert gerade durch den Tunnel und alles was ich in der Scheibe sehne konnte, war mein Spiegelbild. Kurz war ich versucht, meinem jüngeren ich zuzuzwinkern, aber aus Angst, von den anderen Fahrgästen selbst als Freak abgestempelt zu werden, ließ ich es und schaute schnell zu Boden.

Als ich schließlich ausstieg und mich mit einer kleinen Shoppingtour belohnte, wurde mir klar, dass es sich mit der U-Bahn genauso verhielt, wie mit Linie1 im Grips Theater: mit etwas Abstand betrachtet war es zwar immer noch die selbe Bühne, für mich aber nicht mehr das selbe Stück. Vielleicht, so überlegte ich, war es an der Zeit, auch andere „Stücke“ ein zweites Mal zu sehen und die Sichtweise des 15 jährigen Mädchens nochmal zu überprüfen. Und das mache ich jetzt.
Heute Abend starte ich mit Oliven.
Die mochte ich noch nie.
Man muss klein anfangen…



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen