Samstag, 14. November 2015

Episode 50 – Barfuß oder Lackschuh

Auf meinem Schreibtisch steht ein Foto, welches ich besonders gerne mag. Es zeigt meinen Opa und mich vor ungefähr 30 Jahren. Die Erinnerungen an ihn beschränken sich auf wenige Jahre und größtenteils auf die Schulferien, sind aber dennoch sehr klar.
Ich erinnere mich an unsere Spaziergänge entlang der Mosel, an unsere Abende vorm Radio, an MEINEN Süßigkeitenschrank und Einmachgläser voller gesammelter Münzen… ein, zwei, fünf Pfennig, sauber sortiert.
Ich erinnere mich auch nach gut 20 Jahren an seine Stimme und ich erinnere mich daran, wie er meinen „Modegeschmack“ immer lächelnd mit „Barfuß oder Lackschuh“ kommentierte. Die Anspielung auf das bekannte Lied aus den 80ern verstand ich erst, als meine Mutter und er es mir irgendwann lachend vorsangen.

Immer wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, erinnere ich mich an all das. Seit gut fünf Jahren blicke ich von hier, aus meinem Fenster, auf die alten Osramhöfe. Ich habe den Wedding lieb gewonnen. Anfangs war es eher eine Zweckbeziehung. Der Wedding war günstig, „zentral“ (man kann ja quasi behaupten in Mitte zu wohnen) und voller schöner Altbauten. Die Romanze begann vor fast 11 Jahren im afrikanischen Viertel und entwickelte sich, zugegeben, sehr langsam. Wedding, der Arbeiterbezirkt, bestach nicht gerade durch Glamour und Style. Lediglich der Plötzensee und die Rehberge gefielen mir ganz gut.
Als ich einige Jahre später nach einer neuen Wohnung suchte, wurde ich mit guten Ratschlägen und Empfehlungen überhäuft: Prenzl’Berg, Reinickendorf, Pankow, Friedrichshain, Lichtenberg… doch da war es schon geschehen. Ich hatte mich verliebt.
Und nicht nur das: ähnlich wie das Herrchen sich dem Hund anpasst, war der Wedding unmerklich zu meinem Bezirk geworden. Der Schillerpark mit seinen unzähligen Kaninchen, die vielen kleinen Cafés und Bars, die Büchereien und Spätis. Und doch konnte ich es lange nicht richtig beschreiben. Die Antwort kam mir, an einem sonnigen Herbsttag im November. Es war in diesem Jahr außergewöhnlich warm, große Laubhaufen türmten sich am Straßenrand und der Wedding war in ein wunderbar warmes Licht getaucht, als ich mich auf den Heimweg von der Bibliothek am Luisenbad machte.
Spontan (und in Erinnerungen schwelgend) nahm ich einen kleinen Umweg durch den Soldiner Kiez. Nahm eine rechts, eine links und stand plötzlich in der Fordoner Straße. Ohne genau zu wissen, wer oder was mich hier hin geführt hatte, schlenderte ich weiter und stand plötzlich vor einem Stein mit der Aufschrift  „Weddinger Junge“…
Harald Juhnke. Irgendwann, irgendwo hatte ich mal gehört, dass er in Wedding aufgewachsen war. Ich hatte schon immer ein sehr gespaltene Verhältnis zu ihm… viele für mich fragwürdige Lebensentscheidungen duellieren sich mit der unglaubliche Liebe, die er für diese, meine Stadt Berlin, offensichtlich immer empfunden hatte. BERLIN, BERLIN statt New York, New York!
Und während ich mich langsam auf den Heimweg machte, begann ich etwas du summen… „Barfuß oder Lackschuh, alles oder nichts…“
Bis heute beschreibt mich dieser Songtitel ziemlich gut: Bequem und etwas gammlig oder aufgestyled und schick gemacht – beides kann ich. Das dazwischen kann ich nicht.
Vielleicht war es genau das, was mich mit dem Wedding verband, was uns zu Verbündeten machten, was mir das Gefühl gab, Zuhause zu sein. Vielleicht hatte Harald Juhnke genau dieses Gefühl in sich getragen, das Leben im Arbeiterbezirkt Wedding im Hinterkopf, den Glamour dieser Stadt vor sich, als er dieses Lied sang.
Wedding ist vieles, aber niemals Durchschnitt. Ein Stadtteil, der dich mit Jogginghose genauso liebt wie mit Highheels… ich suchte den Song auf YouTube und während ich den Titel mittlerweile das dritte Mal hörte, spazierte ich nach Hause. In Jogginghose. Vielleicht ist morgen mal wieder ein Tag für Lackschuhe…







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